Betrachtungen

Hingabe und Geduld statt Betäubung und Depression

Von Anja Liske-Moritz

Februar 5, 2023

Hingabe und Geduld statt Betäubung und Depression

In welcher Beziehung stehen Sie zu meinem Johann? bohrte die brennende Stimme einer Frau am anderen Ende des Telefons, sobald ich meinen Namen genannt hatte.

Mein Hirn kochte sofort. Johann… Johann? Ich kenne keinen Johann.
Aber ich habe hier Ihre Nummer, sagte unnachgiebig die Frau. 

Ich spürte ihre rotschwarze Energie so stark, dass ich das Gefühl hatte, zu schmelzen. Ich kannte keinen Johann! Doch die Frau am anderen Ende des Telefons glaubte mir nicht, und sie sagte mein Johann

Hatte sie in seiner Jacke einen Zettel mit meiner Telefonnummer gefunden? Sie war sicher seine Frau. Hatte ich etwas mit einem Johann gehabt – ohne mein Wissen? Wie soll das gehen? Hat mich jemand unter K.-o.-Tropfen gesetzt, der Johann heißt und deswegen weiß ich davon nichts… und der behauptet jetzt seiner Frau gegenüber… ?!?

Nein, das kann nicht sein, das ist völliger Schwachsinn. Absurd. 
Johann… Johann… 

Plötzlich – nach einer gefühlten, furchtbaren Ewigkeit – fiel mir ein einziger Johann ein. Das war der Vorname eines meiner Professoren. Ich kühlte schnell herunter angesichts der Vorstellung, mit diesem Mann etwas ohne mein Wissen gehabt haben zu sollen. 

Das war auch nicht seine Freundin am Telefon. Nein, ich kannte sie, ihre Stimme war viel heller und ihre Sprachmelodie weicher. Außerdem sprach die Frau am Telefon einen süddeutschen Dialekt und keinen Wiener. 

Vielleicht bin ich im falschen Film, dachte ich. Es ist vermutlich eine Verwechslung. Ja, es geht bestimmt gar nicht um mich. Woher sie denn meine Nummer habe, fragte ich die Frau, so ruhig ich es vermochte. 

Aus seinem Telefonbuch. Ich rufe alle an, die in seinem Telefonbuch stehen. Mein Johann hat sich vorige Woche das Leben genommen.

Ihren Sohn Johann, einen sehr attraktiven, gebildeten und sportlichen Mann, hatte ich an einer U-Bahn-Station kennengelernt. Die U-Bahn war ausgefallen, es kam die entsprechende Durchsage, und alle Leute außer ihm und mir griffen zu ihren Handys, um das sofort jemandem mitzuteilen. Er und ich lachten miteinander darüber und kamen so ins Gespräch. Es zog sich hin, wir warteten, doch die U-Bahn fiel bis auf Weiteres aus. Später hörte ich, dass es einen Selbstmord auf der Strecke gegeben hatte. 

Da sowohl mein als auch sein nächster Termin durch den Ausfall hinfällig geworden waren, beschlossen wir, etwas essen zu gehen und uns dabei weiter zu unterhalten. Er war ein guter Erzähler. Sein Leben klang spannend und erfüllt. Eine Sinfonie aus Aktivitäten. Studium, viel Sport und abenteuerliche Reisen.

Aber Johann ließ auch schnell erkennen, dass er auf der Suche nach einer Freundin war. Und das mit einer Dringlichkeit, die mir ungewöhnlich erschien. Ich hatte das Gefühl, dass er einsam war, dass er nach Halt suchte, obwohl er so gut aussah und einen angenehmen, unkomplizierten und erfüllten Eindruck auf mich machte.

Zum Abschied tauschten wir Telefonnummern und wünschten uns gegenseitig eine gute Zeit.

Ein halbes Jahr später kam der Anruf. 

Ich kannte Johann etwa zweieinhalb Stunden seines und meines Lebens. Von seiner tiefen Traurigkeit ahnte ich nichts. Damals spürte und sah ich vieles noch nicht, und die inneren Alarmglocken läuteten nur selten mitten in einem Gespräch. 

Ruhe in Frieden, lieber Johann. Mögest du da, wo du jetzt bist, all die Schönheit sehen und all die Liebe erfahren, nach der du dich so gesehnt hast. 

Bis heute ist mir diese Begegnung eine Mahnung. Menschen leiden, suchen nach Hilfe, finden sich nicht mehr zurecht und verstummen. Andere leiden und tun alles, damit es nicht auffällt. Viele Menschen haben niemanden, mit dem sie reden können. Echte Freunde, mit denen wirklich tiefe Gespräche möglich sind, die auch dann noch da sind, wenn man selbst gerade nichts geben kann, sind selten, und die Scham, sich so zu zeigen, wie man wirklich ist - verletzlich, mit Wunden und Narben - ist meist übergroß.

Sich vertrauensvoll in seiner eigenen Verletzlichkeit zeigen zu können, haben die meisten von uns verlernt oder wieder verlernen müssen. Weil es riskant ist. Weil man auf gar keinen Fall (wieder) verletzt oder gar gedemütigt werden will, sondern dazugehören möchte. 

Weil das Pseudo-Heilsein in unserer Gesellschaft die Norm ist. Ob du heil bist oder nicht, spielt keine Rolle: du musst so aussehen und so agieren. Weil der Mainstream den vollen Erfolg im Beruf, in der Beziehung und in der gesamten Entfaltung des Lebens vorgibt und klar definiert.

Überall gibt es Richtlinien für das optimale Handeln: beim Dating, für die Karriereleiter, für Gesundheit, Wellness – und neuerdings sogar für die Rettung der Welt. Wer da nicht mithalten kann, muss sich eben optimieren: Die Werte sind schließlich klar und omnipräsent, wozu also zögern? Etwa um sie zu reflektieren? Aber nein doch, Zeitverschwendung. 

Schöner unsere Hüllen und Fassaden! heißt die Parole.

Das falsche Selbst wird geradezu gezüchtet, der Narzissmus gesellschaftlich hofiert. Wie oft oszilliert unsere Lebenswirklichkeit zwischen Selbstdarstellung und Selbstausbeutung.

Doch spätestens, wenn das Sehnen immer größer wird, endlich einmal der Erschöpfung nachgeben und schlafen zu können und der Wunsch entsteht, sich einfach auszuklinken und alles sein zu lassen, stehen die Zweifel an den gehypten Werten sichtbar im Raum. 

Jede Gruppierung, jede Firma, jedes Milieu hat ureigene Werte. Ob Bankerin oder Rocker, Klimaaktionistin oder Ashrambewohner, ob Nonne, Bandmitglied, Ehefrau oder Beamter:
Wer dazugehören will, muss dieses tun und jenes lassen. Denn 
Werte erzeugen Regeln und bedingen Verhalten.
Wenn du aus der Reihe tanzt: 
tja, game over.

Im Normalfall machst du das solange mit, bis du dich aus irgendeinem Grund fragst, wer du wirklich bist. Ob du diesen ganzen Scheiß wirklich willst. Und was du eigentlich stattdessen willst.

Dann wird es meistens still. 
Denn die Antworten fehlen.

Du musst die Sprache der Stille erst verstehen lernen. Das ist ein längerer Weg, doch wenn du diese Sprache verstehst, dann wird die empfundene Leere zur Fülle.

Deine Lebens-Antworten stehen leider nicht in einem Buch, das du morgen Mittag kaufst und morgen Nachmittag ausgelesen hast. 

Aber sie sind da.
Diese Antworten ruhen in ihrer schlichten Pracht in deinem Innersten, in deiner Schatzkammer. Dort warten sie geduldig darauf, dass du zu ihnen vordringst.

Auf dem Weg dorthin musst du über eine Menge Vergangenheits-Gerümpel klettern. Stell dir das wie einen vollgestellten dunklen Dachboden vor, auf dem ein Schatz liegt. Du weißt weder wie der Schatz aussieht noch woraus er besteht, geschweige denn wo er liegt. Deine innere Entschlossenheit wird zu deiner Taschenlampe. Klar, leicht ist das nicht, aber Übung macht den Meister. 

Manchmal wirst du fluchen und manchmal lachen, aber du wirst vor allem ein Such-und ein Kletter-System entwickeln und andere dafür um Hilfe fragen.

An manchen Stellen wird es zu beschwerlich werden, dann geht es nicht anders: du musst anhalten und hinunterklettern, um den Weg freizuräumen. Und brauchst vielleicht noch mehr Unterstützung, denn du musst deine innere Landkarte erst kennenlernen.

Denn bisher bist du nur den Autobahnen gefolgt. 

Ein Guide, beispielsweise ein Coach oder ein/e Therapeut*in kann dir dabei helfen, deine persönlichen Wegweiser zu entdecken und zu entziffern.  

Das braucht Zeit. Zeit, die du aufbringen musst, wenn du nicht gefangen in einer Gerümpel-Landschaft leben möchtest, die in deine Vergangenheit gehört. 
Das ist Zeit, die sich mehr als alles andere im Leben lohnt.

Diese Zeit aufzubringen heißt, sich freizumachen vom Herdentrieb, von Ablenkung und Betäubung.
Es heißt auch, das Geduldig-Sein zu erlernen, dass in unserer Gesellschaft keinen hohen Stellenwert hat. Doch Geduld ist ein hoher, oft verschwiegener Wert.

Geduld ist eine Tat, Geduld ist eine Kette von Taten, Geduld ist gipfelnde Willensstärke.

Carmen Sylva

So beschrieb es die deutsche Prinzessin Elisabeth Pauline Ottilie Luise zu Wied, spätere Königin von Rumänien, die unter ihrem Pseudonym Carmen Sylva veröffentlichte. Ihr einziges Kind, eine Tochter, starb mit nur drei Jahren. Nichts, auch nicht die Königinnenwürde, konnte ihr diesen Verlust ungeschehen machen, doch fand sie - vor allem schreibend und wohltätig - ihren Weg, mit ihm zu leben und ihn zu transformieren.

Geduld ist die Mutter der Hingabe. Vertrauensvolle, liebende Hingabe an das Leben ist Voraussetzung und Balsam zugleich, um den erlittenen Schmerz zu transformieren.

Hingabe an dich selbst. Hingabe an die Fragen, die selbst noch schemenhaft im Raum wabern.
Hingabe an die Unsicherheit und die Angst und an die Zeit.
Hingabe an all das, was zwischen dir und der Gewissheit steht. 

Hingabe an die noch unbekannten Antworten in deinem Innersten. Auch wenn Akzeptanz noch nicht möglich ist, ist Geduld schon das Fundament. Dinge wachsen. Dinge reifen, manche erst im Winter.

Alles darf sein. Wir dürfen uns das Hineinwachsen erlauben. 

Geduldig in der Hingabe sein heißt, nicht aufzugeben, auch wenn alles dunkel oder trostlos scheint. Geduldig sein heißt, Veränderung zuzulassen, auch wenn man sie noch nicht versteht oder fürchtet, sie nicht zu verkraften.

Es bedeutet, immer wieder aufzustehen und das Notwendige zu erledigen, selbst dann, wenn es vor lauter gefühlter Leere oder Überforderung sinnlos erscheint: Einzukaufen und sich zu ernähren, sich zu waschen und anzuziehen, sich zu pflegen, seine Arbeit zu verrichten, sein Buch zu lesen und seine Freunde zu treffen. Seine Handlungen und Gedanken zu reflektieren, ohne voreilige Schlüsse zu ziehen. 

Es bedeutet zu lernen, in meditativer Gelassenheit seine Kreise zu ziehen und den Blick auf das Schöne im Alltag zu lenken: auf das Lächeln eines anderen Menschen, auf das bewegte Spiegelbild unbelaubter Zweige in einem See. Auf den feuchten grauen Sand unter den Füßen, auf die selig schlafende Katze im Körbchen.

Zu staunen. Sich auszuprobieren, die Welt wieder zu entdecken wie früher als Kind, und Neues zu erleben um des Erlebens willen.

Über die Geduld

Man muss Geduld haben
Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.

Rainer Maria Rilke

Die Fragen selber liebzuhaben, wie Rilke es nennt - das ist noch mehr, als sie nur anzunehmen, zu akzeptieren. Die Fragen lieben lernen, die Unvollkommenheit lieben lernen, die eigene und die fremde - bis sie vertraut wird, das trägt, das gibt wider Erwarten Halt. Es ist ein Prozess, der zu Reife und Ruhe führt. 

Um schließlich das Ungelöste ins Licht des Bewusstseins kommen zu lassen, wenn die Zeit dafür gekommen ist: Wenn DU soweit bist, stark genug, gefestigt genug, dann offenbart sich dir, was Gott mit dir vorhat.

Denn es war nie ungelöst, es war schon immer da. Klar und gelassen lag es in deinem Innersten. Es hat auf DICH gewartet.

In Liebe,
Anja

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