Wunden sind die Stellen, durch die das
Licht in uns eindringt.
- Rumi -
Wir alle haben Wunden und Narben. Körperliche und seelische Verletzungen haben ihre Spuren hinterlassen. Haben uns gezeichnet, manchmal sogar Schneisen geschlagen. Sie sind die Bereiche unseres Seins, die wir fast immer zu verbergen versuchen.
Wir sind gewohnt, uns anders zu zeigen. Zeigen zu müssen. Stark. Kontrolliert.
Stark zu sein und alles unter Kontrolle zu haben, zuallererst sich selbst, ist ein Muss. Vielleicht das MUSS Nr. 1. Jeder und jede will stark und unverletzlich erscheinen. Ob im Disput mit der Chefin, dem Handwerker, der Ehefrau, dem Freund oder unter Kollegen: Verletzlichkeit zu zeigen ist ein No go. Und wenn es einem doch passiert,
dass man die Nerven verliert und schreit,
dass man(n) in der Öffentlichkeit weint,
oder zusammenbricht:
boah..., wie peinlich...
Bei weitem nicht jeder und jede will schlank, attraktiv und begehrenswert aussehen, wie ein Blick auf die Durchschnittsbevölkerung zeigt. Das ist offenbar viel weniger wichtig, als es uns der allgegenwärtige Mainstream weiszumachen versucht.
Aber ganz gleich, wie wir persönlich ticken, mit wem wir uns umgeben und wie wir uns sonst darstellen: Ohne Stark und kontrolliert scheint es nicht zu gehen. Kaum jemand zeigt daher offen seine Verletzlichkeit.
Denn wer sich schwach zeigt, macht sich angreifbar. Wer schwach ist, ist in den Augen der anderen nicht belastbar. Wer nicht belastbar ist, ist nicht zu gebrauchen. Wer nicht zu gebrauchen ist, hat ausgespielt. Wird ausgewechselt.
Ist das wirklich so?
Nein.
Meine eigenen Erfahrungen mit Schwäche und Verletzlichkeit haben mir das Gegenteil bewiesen. Wer Schwäche zugeben kann, zeigt Mut. Wer sich outet, macht anderen Mut, ebenfalls zu sich und seinen Wunden zu stehen.
Leider gibt es immer noch Umfelder, die sind so feindlich wie eine Schulklasse, die sich gerade in der Phase des "Wer kann am geilsten mobben?" befindet. Das sind Umfelder, in denen sich so viele verletzte erwachsene Menschen angesammelt haben, dass es unmöglich wird, dort gesund zu bleiben, geschweige denn dort zu heilen.
Denn dafür braucht es Menschen, die ihr Gegenüber mit liebenden Augen sehen können und sehen wollen. Die daran interessiert sind, im Anderen das Schöne zu sehen, das Verbindende, das Besondere.
Je mehr man einen Menschen demütigt, desto stärker nimmt diese Fähigkeit bei ihm ab. In einem solchen Umfeld kann auch der Dalai Lama keinen Frieden stiften. Es ist niemandes Aufgabe, da zu verbleiben oder gar etwas ändern zu wollen.
Es gibt so viel Wichtigeres! So viel Schöneres.
Wer sich selbst und einem anderen Menschen so vertrauen lernt, dass er seine Wunden und Narben nicht mehr verbirgt, wer sich zeigt und dem anderen die Chance gibt, sich ebenfalls zu öffnen, der hat die Möglichkeit, tiefe, erfüllte und erfüllende Beziehungen zu leben – ohne Tabus, ohne No-Go-Areas, ohne tiefe Einsamkeit trotz vermeintlicher Zweisamkeit.
Ganz gleich, ob als Liebesbeziehung, als Freundschaft oder spontane Bekanntschaft: Tiefe Beziehungen entstehen dann, wenn ich diesen Blick auf mich und den anderen eben nicht vermeide, sondern ersehne, wenn ich die Kraft für die Heilung nutze, für meine eigene und für die meines Gegenübers - und sie nicht mehr benötige, um meine Narben zu überschminken, meine Schwäche mit vermeintlicher Stärke zu überspielen, meine Ängste zu betäuben und meine tiefsten Sehnsüchte in mir abzutöten.
Wer einen anderen Menschen wirklich sieht, blickt in dessen Tiefe.
Wer einen anderen Menschen wirklich liebt, der will nicht die glattpolierte Vorzeige-Oberfläche. Das, womit man sich schmücken kann. Das, was vom Glanz des Anderen auf einen abfällt. Wer wirklich liebt, der will das Echte. Auch die Abgründe und den Schmerz.
Das ist das Schönste an uns. In den Wunden, in den Narben liegt der Schlüssel zu einer Welt, die hinter dem Schmerz liegt. Die Transformation des Schmerzes führt in eine helle Welt voll großer Gefühle und tiefer Einsichten, eine Welt, in der du zu einer Größe heranwächst, die alles bisher Vorstellbare weit überschreitet.
Weil du im Licht bist.
Wer den Kontakt mit dem Schmerz vermeidet, vermeidet auch das Licht. Wer sich selbst wegsperrt, um nicht wieder dahin schauen zu müssen, bleibt klein, weil er sich selbst die Chance verbaut, im Licht zu heilen und dadurch zu wachsen. Leider führt der Weg zur Heilung mitten durch den Schmerz.
Doch wer zu seinem Schmerz steht, ihn voll und ganz annimmt und sich die Kraft spart, anderen etwas vorzumachen, hat schon viel erreicht: Er konzentriert die Energie auf das, was zählt. Auf das Wesentliche:
Er fokussiert sich auf die Heilung.
Salopp gesagt:
Wenn dein Auto einen Platten hat, musst du den Reifen wechseln, nicht den Duftbaum.
Heilung erfordert Kraft. Kraft, um dich in den Prozess hineinzubegeben und nicht wieder abzuhauen. Kraft, einzuschätzen, wie viele kleine und große Pausen du dabei brauchst. Kraft, die Verantwortung für dich zu tragen, bewusst zu bleiben und dein eigenes Tempo zu bestimmen. Dich weder drängen noch bremsen zu lassen.
Heilung erfordert Mut. Mut, dir noch einmal anzuschauen, was dich so verletzt hat.
Wer dazu steht, wie es ihm wirklich geht, was er erlebt und erlitten hat – und was er daraus gelernt hat, der ist echt. Authentisch. Manchmal charismatisch.
Dazu zu stehen heißt natürlich nicht, alle und jeden vollzujammern und bei jeder sich bietenden Gelegenheit über sich und seine Probleme zu reden. Feingefühl ist schon eine gute Sache.
Was die richtige Dosis ist?
Just stop the show.
Das Leben ist zu kurz und zu wertvoll für Show. Lebe dein Leben. Stelle es nicht dar!
Erlaube dir, echt zu sein.
Sprich das mal aus: Ich erlaube mir, ich selbst zu sein. Ich erlaube mir, echt zu sein.
Teile dein Leben mit anderen, die Sonnen- und die Schattenseiten. Umarme dein Leben mit allem, was darin vorkommt, egal, in welcher Phase der Heilung du gerade bist. Vielleicht noch vorsichtig, vielleicht schon in voller Fahrt.
Lebe dich so, wie du bist. Liebe dich dafür und lass dich dafür lieben!